Elf Jahre und ein Tag


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Der Weg zurück ins Leben führt über eine schmale Straße. Der Parkfriedhof liegt mitten in einer Marzahner Wohnsiedlung, die ein Arbeiterviertel ist. Hier leben schätzungsweise 2000 Vietnamesen. Hohenschönhausen, Marzahn und Lichtenberg, das sind die Berliner Bezirke, wo sich viele von ihnen niedergelassen haben.* Es ist ein kalter, nebliger Januartag. Die S7 fährt durch eine graue Landschaft, umgeben von kargen Plattenhäusern. Thanh Ngọc Lê **, 28, zierlich, zarter Händedruck, blickt kurz auf ihre Uhr. Sie beobachtet eine Reihe dieser Gebäude durch das Fenster ihres Wagons. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind es nun 100 Meter. Nur eine Glasscheibe trennt sie voneinander. Vor mehr als elf Jahren beging Tâm ***, eine ihrer besten Freundinnen, hier Selbstmord. Sie war psychisch krank. Sie sprang aus einem dieser Hochhäuser in der Nähe von Springpfuhl. Es ist eine Tragödie, wenn ein Kind vor seinen eigenen Eltern stirbt. Ihre Eltern kamen nach Hause und alles, was von ihr übrig war, lag auf dem Tisch. Ein verdammtes Stück Papier. Kein Abschiedsbrief, sondern der Hinweis auf das Essen im Kühlschrank. Eine Ansage übertönt die Stille. Der Zug setzt seine Fahrt nach einer zweiminütigen Pause fort.

Je mehr man in Richtung Stadtzentrum fährt, umso bunter wird es. Die Fahrgäste sind besser angezogen und multikultureller. Es gibt Afrikaner, Asiaten, Araber; die Vielfalt kommt durch die im Wagon zu hörenden (Telefon)Gespräche zum Ausdruck. Berlin hat sich in den letzten zehn Jahren viel verändert. Ngọc lebt nun in der Nähe des Hackeschen Markts, einem dieser Berliner Trendviertel, wo Touristen das Straßenbild dominieren. Sie hat eine Ausbildung zur Marketing-Kauffrau gemacht und arbeitet seit drei Jahren für ein mittelständisches Textilunternehmen. Natürlich haben ihre Eltern ein Studium von ihr verlangt, aber sie sei glücklich mit ihrer Wahl, die sie vor ihnen verteidigen musste. Wie viele andere vietnamesische Eltern halten sie nicht viel von einer Ausbildung, die in ihren Augen einen niedrigen gesellschaftlichen Stellenwert besitzt.

Ngọcs Eltern arbeiten nicht mehr. Jahrelanges Schuften in einem Imbiss hält ihrer Gesundheit nicht stand. Die meisten ehemaligen Vertragsarbeiter verdienen ihren Lebensunterhalt durch eigene Geschäfte wie Blumen- oder Lebensmittelläden, Änderungsschneidereien und Nagelstudios. Wer mehr Kapital hat, investiert in ein schickes Restaurant mit Wohlfühlinnenausstattung. Vorbei sind die Zeiten der Standimbisse mit Chinapfanne. Eine Reihe von Thai/Viet/Sushi Restaurants mit vielen an den europäischen Geschmack angepassten Speisen wächst wie Pilze aus dem Boden. ****Mit solchen Geschäften wollen die Eltern ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Anders als sie selbst, Vertragsarbeiter, die kamen und eigentlich nach einiger Zeit gehen sollten. Es war keine einfache Zeit in der damaligen DDR. Sie schuften in Fabriken. Sie lebten in abgeschotteten Häusern. Kontakt zu der Bevölkerung war unerwünscht. Sie schuften und schuften und schickten das Geld an ihre Familien in der fernen Heimat.

Und dann fiel die Berliner Mauer.

Gehen oder bleiben? Ngọcs Vater entschied sich für das wiedervereinte Deutschland. Er schlug sich durch und holte seine Familie nach. Es war 1995. Als Ngoc nach Deutschland kam, war ihr alles fremd. Sie war 11 Jahre alt und ging in die fünfte Klasse einer Grundschule in Ostberlin. Ein fröhliches Mädchen. Gut in Mathe. Spielte viel. Fiel. Stand auf. Lachte. Weinte. Und verliebte sich zum ersten Mal, als sie 17 war. Das war nicht in Ordnung für die Eltern, denn ein Freund bedeutet Ablenkung von der Schule und somit Ärger. Sie soll lernen, gute Noten nach Hause bringen und vor allem gehorchen. Für die vietnamesische Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, ist dies nicht selbstverständlich. Es ist diese konfuzianistische Sichtweise, bei der die Kinder sich an den Wünschen der Eltern orientieren, weil sie ihnen das Leben geschenkt und sie großgezogen haben. In der Tat gilt Ehrfurcht vor den Eltern als eine asiatische Tugend. Der vietnamesische Generationsvertrag sieht so aus: Wir arbeiten hart für dich und du darfst uns auf keinen Fall enttäuschen. Das heißt gute Schulleistungen, gutes Studium, guter Job. Wenn das mal erreicht ist, dann kommen Fragen über Heirat und Familienplanung. Was sie für ihre Kinder wünschen, ist nicht schlecht, aber Erfolg und Glück kann man auch anders definieren. Natürlich lieben sie ihre Kinder und wollen nur das Beste für sie, doch sie vergessen dabei, dass ihre Sprösslinge in einem Land mit anderen Werten aufgewachsen sind. Manche fügen sich den Anordnungen ihrer Eltern. Halten durch. Manche verlieren sich selbst. Nicht alle schwimmen in die gleiche Richtung.

Erfolgsgeschichten von jungen Vietnamesen in Deutschland gibt es reichlich. Zeitschriften*****berichten oft von ihnen, nennen sie, so zum Beispiel die ZEIT, „das vietnamesische Wunder.“ Sie gelten als ehrgeizig, fleißig und strebsam. So gesehen sind die in Deutschland lebenden Vietnamesen Vorzeigeimmigranten, eine Art model minority, wie man es von den Asiaten in den USA kennt. Doch auch dieser Erfolg bleibt nicht von einer Schattenseite verschont, die vielen nicht bewusst ist. Unter der Oberfläche brodelt es gewaltig.

Der Leistungsdruck ist groß, die Eltern triezen ihre Kinder, viele bekommen Ärger bei schlechten Schulleistungen. „In Bezug auf Schule sind guten Noten leider oft die einzigen Interessen vieler vietnamesischen Eltern“, meint Thanh Thùy Lương, Sozialpädagogin am Lichtenberger Barnim Gymnasium, das einen hohen Anteil an vietnamesischen Schülern ausweist. Der Druck ist nicht extrem wie bei Amy Chuas Tigermutter, aber auch hier erkennt man den unreflektierten Ehrgeiz der Eltern. Manche von ihnen muten ihrem Kind viel zu und vergessen, dass es auch eine deutsche Identität besitzt. Die Kinder sind schon längst in Deutschland angekommen, doch ihre Eltern nicht. Sie leben immer noch in ihrer vietnamesischen Welt und können die Probleme ihrer Kinder nicht nachvollziehen oder betrachten diese als nebensächlich. Als Ngọc von ihren Mitschülern aufgrund ihrer Herkunft mehrmals gehänselt wurde und ihren Eltern davon erzählte, haben diese sie nicht verstanden und die Beleidigungen verharmlost. Ngọcs Erklärungen stoßen auf taube Ohren. Fidschi, Zigarettenmafia, na und? Sie sollte sich nicht so aufregen und auf das Lernen konzentrieren, rieten sie ihr. Bis heute können ihre Eltern nicht verstehen, dass ihre Tochter jahrelang darunter gelitten hat. Bei Tâm war es viel schlimmer. Es war ein kurzes und anstrengendes Leben. Ihre Eltern arbeiteten den ganzen Tag und bekamen sie nie zu Gesicht. Und wenn sie sich sahen, dann gab es immer Streit. Mal wegen den Noten. Mal wegen den Freunden. Irgendwann wurde es zu viel. Tâm kapselte sich ab. Ihre Eltern betrachteten ihre Verhaltensstörungen als eine Laune der Pubertät. Psychisch krank? So etwas gibt es nicht bei Vietnamesen. Menschen mit psychischer Störung werden ausgegrenzt und als verrückt abgestempelt.

„Meinen ersten Selbstmordgedanken hatte ich, als ich 18 war“, sagt Ngọc. Es war in der Zeit, als die Auseinandersetzung zwischen ihr und ihren Eltern unerträglich wurde. Grund war nicht nur der Leistungsdruck, sondern das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Lebenseinstellungen. Hinzu kam der ständige Streit zwischen den Eltern. Die Luft zum Atmen fehlte. Sie wollte weg aus dieser Enge. Raus aus der Wohnung ihrer Eltern. Raus aus Marzahn. Seit fünf Jahren lebt sie allein und besucht ihre Eltern nur gelegentlich. Zu groß ist da die Kluft zwischen ihnen. Es ist eine Hassliebe. Sie liebt ihre Eltern, kann aber die Engstirnigkeit ihrer Mutter und die Autorität ihres Vaters nicht ertragen. Zwischen ihnen herrscht kein inniges Verhältnis. Das ist keine Seltenheit bei vietnamesischen Eltern und ihren hier in Deutschland aufgewachsenen Kindern. Es ist so als würden beide Welten nebeneinander existieren. „Die Eltern bemühen sich, ihren Kindern etwas zu geben, aber das Falsche. Viele Jugendlichen sind emotional leider sehr vernachlässigt“, so Lương, die außerdem bei Lebenswelt gGmbH arbeitet. Diese in Westberlin ansässige Organisation ist einer der vielen Träger der freien Jugendhilfe, die mit dem Jugendamt kooperieren. Sie übernehmen die Clearingphasen eines Falls, also die Ermittlung der Begebenheiten und die Maßnahmen. So betreuen soziale Einrichtungen wie KJHV, VIET-FAMILY, Reistrommel  oder navitas ebenfalls vietnamesische Familien. Lebenswelt bietet nach eigenen Angaben sozialpädagogische Unterstützung für Jugendliche und ihre Familien, wobei Menschen mit Migrationshintergrund hier im Vordergrund stehen. Die Organisation orientiert sich an einem sprachlichen und kulturellen Lösungsansatz und habe laut Lương die meisten vietnamesischen Mitarbeiter unter Vertrag. Die Probleme reichen von Erziehungsschwierigkeiten bis hin zu Alltagsauseinandersetzungen. Es gibt Familien, in denen der Vater der Spielsucht verfangen ist. Es gibt Familien, in denen geistig und körperlich behinderte Kinder versteckt werden. Aus Scham und Schutz zugleich. Man fragt sich nur für wen. Es gibt Familien, in denen ein Elternteil psychisch krank und somit überfordert ist. So gibt es an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité eine vietnamesischsprachige Spezialambulanz für Behandlung aller psychiatrischen Erkrankungen. Es ist beklemmend gegenwärtig.

In vielen Fällen scheitert die Beziehung zwischen Eltern und Kind an Sprachbarrieren und an einem strengen und autoritären Erziehungsstil. Ein Kind kann daran zerbrechen. Beschimpfungen und körperliche Gewalt gehören dazu. Was fehlt sind Nähe und Zuneigung. Natürlich gibt es auch Probleme in deutschen Familien; man weiß ja nicht, was hinter geschlossenen Türen passiert. Was die Kinder hören und sehen, ist jedoch nur die Oberfläche des heilen deutschen Familienlebens, in dem die Eltern verständnisvoller sind und Dialog erwünscht ist. Kinder und Jugendliche, die beide Kulturen in sich tragen, erleiden gerade deswegen einen Widerspruch in sich selbst, weil die Wertesysteme so gegensätzlich sind. Diese kulturelle Bipolarität ist Segen und Fluch zugleich.

Ein Gespräch zwischen einer Familie und dem Jugendamt kommt zustande, wenn ein Familienmitglied selbst Unterstützung einfordert oder Hinweise über Auffälligkeiten auftauchen. Das letztere ist der Fall bei vietnamesischen Familien. Die meisten Hinweise kommen von den Kitas, Schulen, Ärzten und Krankenhäusern. Ein Beratungsprozess dauert für gewöhnlich sechs Monate und wird meist verlängert. Das Jugendamt spielt hier die entscheidende Rolle, denn es ist die Anlaufstelle für Familien, Träger und andere Einrichtungen wie Kitas, Schulen und Krankenhäuser. Das Hauptproblem bei den Vietnamesen liegt darin, dass die Eltern sich nicht an Gesetze halten oder in den meisten Fällen nicht wissen, dass sie gegen Gesetze verstoßen haben. So ist zum Beispiel Gewaltanwendung ein Bestandteil der vietnamesischen Erziehung, die von den meisten Eltern als selbstverständlich angesehen wird. Schließlich wurden sie genauso von ihren Eltern erzogen, warum soll es jetzt bei ihren eigenen Kindern anders sein? „Wir stellen fest, dass Unwissen bei vietnamesischen Eltern stark herrscht. Die meisten von ihnen sind erst durch Auflagen aktiv und dann ist es zu spät“, bestätigt Hoài Nam Nguyễn, eine ehemalige Mitarbeiterin von Lebenswelt. Was hilft ist also Aufklärung. Vorbeugen ist bekanntlich besser als Heilen. Die Eltern müssen vor allem sensibilisiert werden. Sie können Unterstützung einholen, doch die wenigsten von ihnen wissen von diesen Möglichkeiten. So ist eine direkte Ansprache in Kitas, Schulen sowie Krankenhäusern der erste Schritt eines nachhaltigen Aufklärungsansatzes. Natürlich ist dieser Konflikt zwischen vietnamesischen Eltern und ihren Kindern sehr kulturell verwurzelt und man kann davon ausgehen, dass die eingedeutschten Enkelkinder es leichter haben werden. Sie werden mit Sicherheit nicht mit dieser Generationskluft leben müssen, doch es soll nicht heißen, dass man die jetzige Situation als eine natürliche Entwicklung hinnimmt und nichts ändert, wenn man es ändern kann.

Wieder Stille im Zug. Vielleicht hätte Tâm noch gelebt, wenn sie und ihre Eltern von diesen Möglichkeiten gewusst hätten? Hätte. Was für ein schreckliches Wort. Ngọc schweigt. Ihr Blick geht ins Leere. Haltestelle Berlin Alexanderplatz. Eine Ansagestimme informiert über weitere Anschlussmöglichkeiten. Sie steigt in einen anderen Zug ein. Er hält genau 1 Minute an und fährt weiter in Richtung Potsdamer Bahnhof.

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* http://www.berlin.de/ba-lichtenberg/politik/integrationsbeauftragte01.html Die Gruppe der Vietnamesen und der Vietnamesinnen bildet mit 3.800 Bürgern den höchsten Anteil registrierter Ausländer in Lichtenberg. Mehr als ein Drittel aller Vietnamesen Berlins sind Lichtenberger Bürger/innen.

** Name geändert

*** Name geändert

**** Anhand dieser gastronomischen Entwicklungen kann man die wirtschaftliche Geschichte der in Deutschland lebenden Vietnamesen analysieren, aber das ist eine andere Story

*****http://www.welt.de/politik/deutschland/article12458240/Die-besten-deutschen-Schueler-stammen-aus-Vietnam.html

http://www.fr-online.de/wissenschaft/grosser-bildungserfolg-von-migranten-vietnamesen-oft-die-besseren-schueler,1472788,3271578.html

http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/ehrgeizige-vietnamesen-streben-fuer-die-familienehre-a-733046.html

http://www.tagesspiegel.de/berlin/wo-bildung-zaehlt/1428758.html